In den Fachgruppen auf Facebook und den sozialen Medien tobt aktuell die Diskussion um das Coronavirus und mögliche Auswirkungen auf die Versicherungsbranche. Immer wieder ein Thema: Die Berufsunfähigkeitsversicherung.
Das Spektrum der Thesen reicht von „Es wird keinen Effekt geben“ bis hin zu „es wird schlimm werden“. Aber sind solche Aussagen aktuell überhaupt möglich? Wie reagieren Gesellschaften in Sachen BU bisher auf das Virus? Und wie wirkt sich die Situation auf die Kunden aus? Darüber haben wir mit einem der renommiertesten Spezialisten für biometrische Risiken und Arbeitskraft-Absicherung in Deutschland gesprochen: Philip Wenzel.
umdenken.co: Der Coronavirus bestimmt in vielen Bereichen die aktuellen Diskussionen, auch in der Versicherungsbranche. Stichworte sind „Langzeitschäden“ und mögliche Effekte auf die BU. Wie bewerten Sie das?
Philip Wenzel: Als gelernter Historiker werden Sie von mir keine Antworten zu möglichen Langzeitfolgen bekommen. Wir werden das nur in der Retroperspektive betrachten und auswerten können. Alles andere ist hochgradig spekulativ. Einige sprechen bereits von möglichen Hirnschäden, andere beschwichtigen und verweisen auf die Risikogruppen als hauptsächlich Gefährdete. Auf dieser Datenlage aufbauend können wir gar keine Prognosen abgeben. Das wird aus meiner Sicht frühestens in einem oder zwei Jahren möglich sein.
umdenken.co: Und explizit für die BU-Versicherung?
Philip Wenzel: Hier haben wir ja noch nicht einmal den Prognosezeitraum erfüllt. Also nicht einmal sechs Monate mit Corona. Ich habe bisher noch keinen Mediziner gesehen, der gesagt hat: „Sie haben COVID-19, das wird noch sechs Monate dauern und damit erfüllen Sie den Prognosezeitraum“. Auch hier befinden wir uns in einem spekulativen Umfeld. Was wiederum klar ist: Wer durch COVID-19 einen Lungenschaden erleidet oder einen Vorschaden verschlimmert und dazu noch in einem Beruf tätig ist, der besonders körperlich anstrengend ist oder eine besondere Staub- beziehungsweise Feinstaubbelastung hat, dann kann das natürlich einen Effekt haben.
„Hier haben wir ja noch nicht einmal den Prognosezeitraum erfüllt.“
umdenken.co: Gibt es Anzeichen für Änderungen bei den Gesellschaften?
Philip Wenzel: Hier gibt es noch keinerlei Anzeichen. Im Gegenteil: Einige Rückversicherer haben bereits signalisiert, dass sie an der Kalkulation nichts ändern werden. Und wir wissen, dass viele BU-Versicherer „auf Kante genäht“ sind, also sogar zukünftig Probleme bekommen könnten, die Leistung darzustellen, weil sie zu aggressiv kalkuliert haben. Dabei hätten die Gesellschaften jetzt wegen Corona alle die Gelegenheit gehabt, die Kalkulation im Bestand oder zukünftig anzupassen. Das hätte sogar jeder verstanden. Gemacht hat es trotzdem keiner. Das deutet darauf hin, dass sich hier zumindest vorläufig nichts ändern wird. Gilt übrigens genauso für die Risikolebensversicherung.
umdenken.co: Der Faktor Psyche wird in dem Kontext auch immer wieder thematisiert. Insbesondere die Effekte durch wirtschaftliche Probleme oder die Ausgangsbeschränkungen. Auch spekulativ oder wie verhält sich das?
Philip Wenzel: Tatsächlich auch aus meiner Sicht sehr spekulativ. Was ich mir durchaus vorstellen könnte, ist eine Häufung von Fällen durch die höhere Belastung insgesamt. Aber wie eben üblich in der Psyche, ist die Prädisposition wichtig. Menschen, die ohnehin gefährdet sind und dazu noch sozial stärker isoliert, haben aktuell sicherlich ein höheres Risiko. Aber das ist aus meiner Sicht nicht die Masse.
Und wirtschaftliche Auswirkungen können natürlich auch die Psyche belasten. Gerade diverse Künstler, Theater, Kinobetreiber oder Messebauer haben aktuell mein größtes Mitgefühl. Deren Lage ist zum Teil wirklich düster. Gastronomen und Hoteliers ebenso, wenn auch mit Abstrichen. Natürlich gibt’s noch viele weitere Branchen, die besonders belastet sind. Aber ich bleibe dabei: Große Prognosen abzugeben ist einfach seriös nicht möglich.
Umdenken.co: Gibt es aus Ihrer Sicht auf der Kundenseite einen Corona-Effekt? Beschäftigen sich Kunden aktuell mehr mit Gesundheit und Vorsorge?
Philip Wenzel: In der Kommunikation und in der Kundenwahrnehmung hat sich die Situation ein stückweit geändert. Denn viele Risiken waren bisher für gesunde Kunden abstrakt. Die Pandemie liefert da ein plastisches Beispiel mit großer Aufmerksamkeitswirkung für die Beratung. Viele Menschen haben jetzt gemerkt, dass Gesundheit nicht selbstverständlich, sondern auch durchaus verletzlich ist. Eine gesteigerte Nachfrage kann ich derzeit nicht erkennen.
Umdenken.co: Spielt Corona in Ihrer Kommunikation zum Kunden aktuell eine Rolle?
Philip Wenzel: Manche Kollegen schreiben aktuell Blogartikel, die dem Kunden nahe legen, möglichst schnell abzuschließen, da es sonst bald nicht mehr möglich sei. Ich habe einen Artikel geschrieben, in dem ich versucht habe, das Ganze zu entschärfen. Und dem Interessenten zeige, dass es derzeit keinerlei Anzeichen gibt, dass eine schadenfrei überstandene Infektion eine Ablehnung zur Folge haben könnte. Denn diese Behauptung ist vollkommener Käse. Natürlich ist es grundsätzlich aber immer besser, früher abzuschließen.
„Aber jetzt aus Panik schnellschussmäßig wegen Corona eine BU abzuschließen, halte ich nicht für sinnvoll. Da gibt es deutlich bessere Gründe. Ich glaube, etwas mehr Ruhe würde uns allen gut tun.“
umdenken.co: Können Sie bei Kunden ansonsten einen Effekt beobachten?
Philip Wenzel: Die Leute sind in jedem Fall offener für Online Beratung mit Webcam und Co. Während früher die meisten gesagt haben „Telefon reicht doch“, wünschen sich heute deutlich mehr Menschen diese Möglichkeit. Viele machen sogar konkrete Vorschläge, welches Tool genutzt wird, weil jetzt die Menschen ihre Erfahrung damit gemacht haben.
umdenken.co: Herr Wenzel, vielen Dank für Ihre Einschätzung!
Philip Wenzel: Sehr gerne, jederzeit!
Mehr von Philip Wenzel und zu AKS
Der Fachwirt für Versicherungen und Finanzen veröffentlicht regelmäßig als Fachautor in zahlreichen Branchenpublikationen, aber auch in den Blogs der BSC GmbH, für die er die Abteilung Arbeitskraftsicherung leitet, oder des neuesten Projekts Worksurance. Außerdem finden Vermittler in unserem AKS Kompetenz-Center umfassende Informationen zu Beratung, Zielgruppen und Produkten.
Titelbild: ©Philip Wenzel